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Autoren: Heinrich Schaur
Linz, 2003
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Literaturnetz

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Textproben:

Am Samstag, den 1.Juli 2000, um exakt 12 Uhr hat Bundeskanzler Dr. Mehrwert seine Rede auf dem Stadtplatz von Hornaus beendet. Das Geläut der Kirchenglocken setzte ein. Fast schien es, als ob die Kirchenglocken dem Kanzler zu seiner Rede applaudieren wollten. Vom Geläut der Kirchenglocken noch zusätzlich angestachelt, brachen alle Hornauser in einen stürmischen Applaus los. Die Menschen von Hornaus waren hingerissen und überwältigt. Sie waren vollkommen außer sich. Die dreistündige Rede des Bundeskanzlers hat sie in einen Rausch der Begeisterung versetzt. Daß ihnen die Rede im vorhinein bekannt gewesen ist und aus nichts anderem als aus der ewigen Wiederholung des immergleichen politischen Satzes bestand, konnte die Begeisterung nicht trüben. Beinahe peinlich berührt waren sie in Anbetracht der Ehre, die ihrem kleinen Völkchen durch den Besuch und die Rede des Bundeskanzlers zuteil geworden war. Sprachlos geworden vor Scham standen die Hornauser vor ihrem Bundeskanzler und applaudierten. Immer heftiger und heftiger applaudierten sie. Und der Bundeskanzler war gerührt. Mit einer Träne in seinem linken und einer Träne in seinem rechten Auge verbeugte er sich vor seinem Volk. Immer wieder verbeugte er sich. Und immer wieder applaudierten die Hornauser. Der Verliebtheitszustand, der zwischen Volk und Bundeskanzler unmittelbar vor der Rede entstanden war, schien eine neue Aufwallung zu erleben. Das Volk applaudierte. Immer heftiger. Und der Bundeskanzler verbeugte sich. Immer tiefer. Und wieder applaudierte das Volk. Und wieder verbeugte sich der Bundeskanzler. Die Abfolge zwischen Applaus und Verbeugung entwickelte sich immer mehr zu einem kommunikativen Ritual. Zu einer Geheimsprache zwischen zwei Verliebten. Das Volk schien mit seinem neuerlichen Applaus auf die vorangegangene Verbeugung des Bundeskanzlers zu reagieren. Und der Bundeskanzler schien mit seiner neuerlichen Verbeugung auf den vorangegangenen Applaus des Volkes zu reagieren. Eine Abfolge zwischen Applaus und Verbeugung, die sich immer wieder aufs neue wiederholte. Keine Seite wollte diesen kommunikativen Kreislauf durchbrechen. Keine Seite konnte diesen kommunikativen Kreislauf durchbrechen. Weder war es dem Volk möglich, auf eine neuerliche Verbeugung nicht wieder mit einem neuerlichen Applaus zu reagieren, noch dem Bundeskanzler, auf einen neuerlichen Applaus nicht wieder mit einer neuerlichen Verbeugung. Und so applaudierte das Volk immer wieder von neuem. Und der Bundeskanzler verbeugte sich immer wieder von neuem. Ein Kreislauf, der plötzlich undurchbrechbar schien. Das Volk dachte, es würde den Bundeskanzler tief kränken und verletzen, wenn es seine vorangegangene Verbeugung nicht mit einem neuerlichen Applaus beantworten würde. Und der Bundeskanzler wiederum dachte, er würde das Volk tief kränken und verletzten, wenn er seinen vorangegangenen Applaus nicht mit einer neuerlichen Verbeugung beantworten würde. Da aber weder der Bundeskanzler sein Volk, noch das Volk seinen Bundeskanzler tief kränken und verletzten wollte, konnte keine Seite den Anfang mit dem Ende wagen. Weder war es dem Bundeskanzler möglich, sich nicht wieder zu verbeugen. Noch dem Volk, nicht wieder zu applaudieren. Es entstand ein kommunikativer Kreislauf, der immer mehr und mehr unauflösbar wurde. Das Volk und der Bundeskanzler wickelten sich gegenseitig immer mehr in einen Kreislauf ein, aus dem es immer noch unmöglicher wurde, sich daraus wieder zu befreien. Immer wieder und wieder applaudierte das Volk. Und immer wieder und wieder verbeugte sich der Bundeskanzler. Ein Ausweg aus diesem kommunikativen Dilemma wurde immer unmöglicher. Gleichzeitig aber wurde ein Ausweg für beide Seiten immer zwingender. Sowohl der Bundeskanzler, als auch das Volk zeigten bereits erste Anzeichen von Erschöpfung. Der Bundeskanzler konnte sich nur noch mit Mühe aufrecht halten. Der Rücken schmerzte ihn heftig. Die Wirbelsäule war verbogen. Manche Bandscheiben drohten herauszuhüpfen. Das Volk hatte keine Kraft mehr, in der Menge zu stehen. Die Luft war durch das viele Atmen dünn geworden. Die Handflächen waren rot angeschwollen und wund applaudiert. Das Durchbrechen der unaufhörlichen Abfolge von Applaus und Verbeugung wurde immer dringender. Gleichzeitig aber auch immer schwieriger. Und dies deswegen, weil durch das immer länger andauernde kommunikative Geschehen eine immer engere Beziehung zwischen Volk und Bundeskanzler entstand. Mit jeder neuerlichen Verbeugung des Bundeskanzlers und jedem neuerlichen Applaus des Volkes sind beide Seiten einander immer näher gekommen. Eine immer weiter angewachsene Nähe zwischen Bundeskanzler und Volk, die den ursprünglichen Verliebtheitszustand immer mehr in einen reinen Zustand der Liebe umwandelte. Und diese immer weiter angewachsene Liebe zwischen Bundeskanzler und Volk hatte zur Folge, daß es beiden Seiten immer noch unmöglicher werden mußte, die jeweils andere Seite dadurch tief zu kränken und zu verletzen, indem auf eine neuerliche Verbeugung nicht mit einem neuerlichen Applaus, und auf einen neuerlichen Applaus nicht mit einer neuerlichen Verbeugung reagiert wird. Die absolute kommunikative Ausweglosigkeit war damit perfekt. Der gefühlsmäßig immer intensiver gewordene kommunikative Kreislauf war nicht mehr zu durchbrechen. Jedenfalls nicht mehr durch einen Willensakt, der von einer der beiden Seiten kam. Sowohl dem Bundeskanzler, als auch dem Volk fehlte der notwendige Wille und die notwendige Kraft, um eine unauflösbar gewordene Abfolge von Verbeugung und Applaus durch einen einseitigen Akt zu durchbrechen. Der Mut zu beginnen, den ersten Schritt zu setzen, war nicht mehr vorhanden. Bei beiden Seiten nicht mehr. Niemand hatte mehr den Mut, die Kraft und den Willen, zu beginnen. Mit dem Aufhören zu beginnen. Der Bundeskanzler nicht. Das Volk nicht. Der Bundeskanzler verbeugte sich immer wieder von neuem. Und das Volk applaudierte immer wieder von neuem. Eine unendliche kommunikative Aufeinanderfolge, die sich bis in alle Ewigkeit hinein fortzusetzen drohte. Und der Grund, warum es so weit kommen konnte, daß Bundeskanzler und Volk einander gegenseitig in einen immer auswegloseren kommunikativen Kreislauf hineinmanövrierten, ist ein einfacher: Es ist ein bloßes Mißverständnis gewesen, das zu dieser kommunikativen Aneinanderkettung und letztlich zu einer lebensbedrohlichen Erschöpfung beider Seiten geführt hat: Der Bundeskanzler dachte immer, der Applaus des Volkes sei zuerst dagewesen und deswegen müsse er, wolle er das Volk nicht tief kränken und verletzen, mit einer tiefen Verbeugung reagieren. Und das Volk dachte immer, die Verbeugung des Bundeskanzlers sei zuerst dagewesen und deswegen müsse es, wolle es den Bundeskanzler nicht tief kränken und verletzen, mit einem heftigen Applaus reagieren. Beide Seiten dachten somit, daß die kommunikative Aktion der jeweils anderen Seite immer zuerst dagewesen sei und sie mit ihrer eigenen kommunikativen Aktion bloß darauf reagieren würden. Beide Seiten haben demnach die eigene kommunikative Handlung immer nur als Reaktion verstanden. Und nie als ursprüngliche, anfängliche Aktion. Aufgrund dieses Mißverständnisses mußte es dann geradezu zwingend zu der verhängnisvollen ewigen Aufeinanderfolge von Verbeugung und Applaus oder von Applaus und Verbeugung kommen. Interessanter Weise lag diesem nicht enden wollenden und immer intensiver werdenden kommunikativen Ereignis zwischen Bundeskanzler und Volk ein Scheitern der Kommunikation zu Grunde. Das anfängliche Scheitern oder das Fehler der Kommunikation war die Voraussetzung für eine letztlich nicht mehr beendbare und sich bis in alle Ewigkeit hinein ausdehnende Kommunikation. Und dies deshalb, weil man sich von Anbeginn an offensichtlich nicht darüber verständigen konnte, welche kommunikative Handlung den Anfang bildete. Hätte Klarheit darüber geherrscht, ob die Verbeugung des Bundeskanzlers zuerst da gewesen ist und der Applaus des Volkes die Reaktion darauf war, oder ob der Applaus des Volkes zuerst dagewesen ist und die Verbeugung des Bundeskanzlers die Reaktion darauf war, hätte über diesen Urzustand Klarheit geherrscht, hätte es diese kommunikative Urverständigung gegeben, dann hätte man auch gewußt, welche kommunikative Handlung von welcher Seite das Ende zu bilden hatte. Hätte Klarheit darüber geherrscht, daß die Verbeugung des Bundeskanzlers den Anfang bildete, so wäre gleichzeitig klar gewesen, daß der Applaus des Volkes das Ende zu bilden hatte. Oder hätte Klarheit darüber geherrscht, daß der Applaus des Volkes den Anfang bildete, so wäre gleichzeitig klar gewesen, daß die Verbeugung des Bundeskanzlers das Ende zu bilden hatte. Mit einer kommunikativen Urverständigung über das, was zuerst dagewesen ist, hätte man sich jedenfalls eine kommunikative Ausdehnung bis in alle Ewigkeit hinein erspart. Aber scheinbar haben Bundeskanzler und Volk genau dies gewollt: Eine kommunikative Ausdehnung bis in alle Ewigkeit hinein. Wider jede Vernunft und wie zwei kopflos ineinander Verliebte wollten Bundeskanzler und Volk die kommunikative Abfolge von Verbeugung und Applaus immer wieder aufs neue wiederholen. Der Bundeskanzler verbeugte sich immer wieder und wieder. Und das Volk hat immer wieder und wieder applaudiert. Bis in die völlige Erschöpfung und bis in den Untergang hinein. Auf alle Ewigkeit. Amen.

/ 2003

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