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Nervenklinik - Haupteingang

Autoren: Claudia Taller
2008
Gattung: Prosa

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Textproben:

Nervenklinik – Haupteingang

"Sie ist einfach ausgebrannt." Ich weiß nicht, ob sie über mich reden. Sie haben die Schiebetüren offen gelassen. Sie scherzen miteinander. Ich soll draußen auf den Pfleger warten, haben sie gesagt. Ich bin müde. Ich sollte hungrig sein. Ich spüre es nicht. Ich weiß nicht, wie mein Gesicht aussieht. Wenn die Frau hinter der Glasscheibe es spiegelt, muss es feindselig sein. Ich bin auf dieser Bank schon gesessen, bevor sie mich hinter die Schiebetüren geholt haben. Sie haben mich so vieles gefragt. Ich habe vergessen was. Ich muss so vieles gesagt haben, dass sie mich da behalten wollen. Sie wollten unbedingt, dass ich es freiwillig tue. Sie haben mich gezwungen, freiwillig da zu bleiben. Den Pfleger habe ich nie wieder gesehen. Er hat mich an meinen kleinen Bruder erinnert. Er wäre nie ein Pfleger geworden. Eine Pflegerin hat mir eine Bibel gebracht und eine Tablette. Das waren meine Bedingungen gewesen für das Freiwillig-Dableiben. "Eine Bibel." "Keine Infusionen." "Ausgebrannt" – da müsste ich ganz leer sein, innen, und schwarz. Gut, dass das niemand sehen kann. Da hätte ich einmal brennen müssen - ich erinnere mich nicht. Das hätte wehtun müssen – ich erinnere mich nicht. Wo ist das alles hingekommen? Es muss Asche geben, viel Asche. Ich suche meine Lieblingsstellen in der Bibel. Das stimmt nicht. Es sind nicht meine Lieblingsstellen. Sie sind das genaue Gegenteil. Ich suche sie wieder und wieder. Sie haben mir etwas zu sagen. Sie sagen mir etwas über mich, etwas Nicht-Angenehmes. Ich muss mich dem stellen. Die Stimmen sagen das auch. Immer wieder fragen sie mich, was die Stimmen sagen. Es sind andere, die das fragen, andere, als die, die gesagt haben, ich solle wollen, da zu bleiben. Ich bewege mich frei durch die Gänge. Das habe ich davon, sagen sie, das habe ich vom Freiwillig-da-geblieben Sein. Ich habe ein Schild gesehen mit der Aufschrift "Kirche". Darunter ist eine schwere Holztüre mit eingeschnitzten Figuren. Die Türe weist mich ab. Sie ist zu schwer für mich. Vielleicht gibt es nur die Türe und keine Kirche dahinter. Ich habe mich verlaufen. Ich betrete die oberste Stufe einer Treppe. Die Treppe ist zu steil für mich. Ich bleibe stehen. Ein Licht breitet sich aus von der Wand gegenüber, füllt den Gang tief unter mir, kommt die Treppe herauf, bis zu mir. Es ist nicht ein Licht, es sind Felder von Licht, es sind farbige Felder von Licht. Ich komme zu spät in mein Zimmer. Die Therapeutin hat mich schon gesucht. Dreimal am Tag gehe ich zu der Wand mit dem Licht. Die Farben sind nicht immer gleich. Ich glaube, es macht einen Unterschied, ob ich die Treppe von unten oder von oben betrete. Oder es hat mit der Tageszeit zu tun. Ich werde es herausfinden. Immer bleibe ich lange beim Licht. Ärzte gehen vorbei. Sie sind nicht zuständig für mich, ich fürchte sie nicht. Ich bleibe immer auf derselben Stufe stehen. Ein Arzt spricht mich an. "Das Licht gefällt Ihnen?" "Nein", sage ich, "ich brauche es, ich nehme es in mich hinein." Ich registriere ein Lächeln auf seinen Lippen, er will etwas sagen. Er sagt nichts, er geht weiter, er ist nicht zuständig. Ich hätte ihm noch sagen wollen, wozu ich das Licht brauche. Ich gehe nur mehr zweimal am Tag zum Licht. Ich glaube nicht mehr, dass ich es bin, die die Farben verändert. Schön ist es, wenn von links und von rechts blaue und grüne Felder aufeinander zukommen und das grelle, weiße Licht in der Mitte schmäler werden lassen. Auch die orange-roten Felder sind schön. Mein Inneres kann nicht mehr schwarz sein. "Was machen Sie mit dem Licht?" Es ist der Arzt mit dem Lächeln. Er fragt mich das, obwohl er nicht zuständig ist für mich. Ich spiegle sein Lächeln auf meinen Lippen. "Ich kleide mein Inneres damit aus." Sein Lächeln verschwindet. Erschrocken nehme ich das Lächeln von meinen Lippen. Habe ich etwas Falsches gesagt? Wird er es meiner Ärztin sagen? "Ihr Inneres wird so schön werden wie Ihr Äußeres", sagt er ohne Lächeln und geht. Ich gehe nur mehr einmal am Tag zum Licht. Und einmal am Tag gehe ich zur Musik, "Musiktherapie" sagen sie. "Suchen Sie sich ein Instrument aus", sagte die Therapeutin. "Ich kann kein Instrument spielen", habe ich gesagt. Ich habe den Gong gewählt. Der Klang dringt durch mein Äußeres in mein Inneres. Ich bewahre ihn in meinem Inneren. Jeden Tag habe ich mehr Klang in mir. Ist mein Äußeres schön? Wenn ich den Arzt wiedersehe, werde ich ihn nach der Kirche fragen. Ich werde fragen, ob es erlaubt ist, hineinzugehen und ob es eine Kirche gibt hinter der Türe. Die Therapeutin der Musik sagt, ich solle ruhiger atmen. Ich sage ihr nicht, dass mein Inneres ausgebrannt ist und ich soviel Klang wie möglich in mich hinein nehmen muss. Ob es eine Orgel gibt in der Kirche? Ich habe noch ein Schild gesehen, "Seelsorge". Ich sorge mich auch um meine Seele. Ist sie mit ausgebrannt worden? Wird sie wieder einziehen, wenn mein Inneres so schön geworden sein wird wie mein Äußeres? Ich traue dem Schild "Seelsorge" nicht. Das Licht ist heute verändert. Es ist nur hell. Es kommen keine Farben. Habe ich alle Farbe in mir? Mir ist schlecht. Ich setze mich auf eine Stufe. Ich schaue durch das Geländer der Treppe auf die lichte Wand gegenüber. Nicht eine Farbe. Ich fühle mich schuldig. Der Arzt mit dem Lächeln kommt den Gang entlang, den Gang unterhalb der Treppe. Ich sehe ihn von weitem. Er tritt in den Raum unterhalb des Lichtes. Das Licht fällt auf seinen weißen Mantel. Das Licht verschluckt ihn. Ich schreie. Er kniet neben mir auf der Stufe. Er hat grüne Augen. "Ich will in die Kirche", sage ich in seine grünen Augen hinein. "Kommen Sie", sagt er. Wir gehen die Stufen hinauf, biegen nach rechts, links sehe ich das Schild "Kirche", es ist gelb. Der Arzt öffnet die Holztüre, hält sie für mich auf, schließt sie hinter mir. Das ist eine Kirche - größer als ich glaubte. Und es ist auch keine Kirche. Sie tut nur so, als ob sie eine wäre. Ich bleibe nicht. Der Arzt ist nicht mehr da. Ich muss die Stufen alleine hinunter. Ich schaue nicht zur Lichtwand. Ich will nicht verschluckt werden. Ich muss das Licht schlucken. Ich muss mich ausfüllen. Ich weiß, ich komme erst heraus, wenn ich wieder ausgefüllt bin. Ich muss beichten. Ich habe keinen Beichtstuhl gesehen in der Kirche. Es ist nur eine Als-Ob-Kirche. Ich habe keine Orgel gesehen. Das Ausbrennen war die Strafe für meine Sünden. Ich habe die größte aller Sünden begangen, die Sünde wider den heiligen Geist. Ich habe mich aufgelehnt. Ich war nicht gehorsam. Ich habe nicht den zehnten Teil gegeben. Ich hatte ein hartes Herz. Jetzt habe ich keines mehr. Gongschläge hallen in mir. Ich kann sie hören. Sie übertönen die Stimmen – manchmal. Ich bin in einem Gang, wo ich noch nie war. Da ist eine große Glasscheibe und dahinter ist ein Wasserfall. Ich kann ihn nicht hören. Die Glasscheibe ist rundum verschlossen. Ich muss den Gang zurück. Ich drehe um und sehe sie. Sie müssen sie soeben für mich hierher gestellt haben. Eine hohle Frau, aus schwarzen Eisenstäben gebaut, nur ihr Gesicht und ihre Hände sind ausgefüllt. Sie wissen also, wie es in mir aussieht. Sie wissen es besser als ich. Sie stellen mir diese Frau, diese Skulptur, in den Weg. Ich soll nicht glauben, dass ich mich mit schönen Farben auskleiden kann. Und dann einfach gehen kann. "Sie hat einen Rückfall." Ich weiß nicht, ob sie über mich reden. Ich spüre die Bibel unter meiner Hand. Ich möchte, dass sie gehen. Ich muss meine Stellen suchen. Hoffärtig war ich. Die Stimmen haben recht. Mit Farben wollte ich mein Ungenügen auskleiden. Sie sagen, sie müssen mir Infusionen geben. Sie bitten mich nicht mehr, es freiwillig zu wollen. Die Infusionen schwemmen die Stimmen aus mir heraus. Ich beginne von vorn. Ich wähle wieder den Gong. Er ist meinem Inneren vertraut. Ich träume. Ich träume von einem Wasserfall. Ich stehe im Wasserfall. Das Wasser fällt in mich hinein. Es füllt mich aus. Es geht ganz schnell. Ich laufe über. Ich schreie vor Freude. Ich wache auf. Niemand kommt. Ich bewege mich vorsichtig durch die Gänge. Ich suche das Schild "Seelsorge". Ich muss vorsichtig sein. Vielleicht haben sie mir wieder die schwarze ausgehöhlte Frau in den Weg gestellt. Ich habe im Traum die Freude gehabt, da muss ich doch eine Seele haben. Der Seelsorger wird es mir sagen. Es war eine Seelsorgerin. Sie hat mich nicht verstanden. Ich solle mir von der Seele reden, was mich bewegt, sagte sie. Wie soll ich das tun, ohne Seele? Sie könnte beim Ausbrennen mit verbrannt sein. "Ich brauche eine Bestätigung, dass ich im Besitz einer Seele bin", sagte ich zur Seelsorgerin. Sie könne mir keine Bestätigung geben, sagte sie. Aber ich solle meinen Hoffnungen Stimme und Raum geben. Ich sagte ihr, ich hätte genügend Stimmen bei mir und genügend Raum in mir, viel zu viel Raum hätte ich in mir, leeren Raum, und in diesem leeren Raum fehle eben die Seele. Und es sei ihre Aufgabe, mir eine Seele zu besorgen. "Nein", sagte die Frau Seelsorgerin, die ihren Namen nicht verdient, das sei nicht ihre Aufgabe. Das habe auch noch nie jemand von ihr verlangt. Da bin ich gegangen. Und sie hat mich nicht begleitet, nicht einmal bis zur Türe. Und zuvor hat sie gesprochen von Begleitung und Unterstützung, die sie mir gewähren wolle. "Seelendoktor" sagen die anderen zu ihm. Ich habe das Wort zuvor noch nie gehört. Es gefällt mir. Es passt zu ihm. Er ist "mein" Doktor. Er hat auf den Stufen neben mir gekniet. Ich habe seine grünen Augen neben mir gesehen. Ob er mir eine Seele bringen kann? Vielleicht findet er meine in mir. Die Seele ist ein Hauch. Vielleicht ist sie noch da. Ich werde mich auf die Stufen setzen und warten. Und wenn er kommt und das Licht ihn verschluckt, werde ich schreien. Und er wird wieder neben mir knien. Das Licht hat ihn nicht verschluckt. Ich habe nicht geschrien. Ich habe vergessen zu schreien. Er ist ohne mein Zutun die Treppe herauf gekommen, in Gedanken. Er hat mich nicht gesehen. Bis er vor mir stand. Er ist erschrocken. Der Herr Seelendoktor ist erschrocken - vor mir. Seine Augen sind dunkelgrün geworden. Ich habe bis in seine Seele gesehen. "Herr Doktor", habe ich gesagt, "Herr Doktor, Sie haben eine große Seele, leihen Sie mir ein wenig von Ihrer Seele." Da sind seine Augen noch dunkler geworden. "Meine Seele wird wachsen an Ihrer Seele", habe ich gesagt. "Ich gebe Ihnen doppelt zurück, was Sie mir geben werden". Er hat mich lange angesehen. Seine Augen sind hell geworden. Ich habe seine Seele nicht mehr gesehen. "Ich leihe nicht. Ich nehme nicht zurück", hat er gesagt. "Wachsen Sie an sich selbst." Er ist schnell weggegangen. Ich sitze auf der Stufe. Ich laufe ihm nicht hinterher. Ich frage nicht, wie ich tun soll, was er gesagt hat. Die Lichtfelder an der Wand unter mir schieben sich ineinander. Ich sehe Farben, die ich noch nie gesehen habe. Ich warte auf das Wachsen. Sie haben mich geholt. Sie haben mich weggeholt von meiner Stufe. Sie haben eingeredet auf mich. Ich habe sie nicht verstanden. Ich bin ganz leicht mitgegangen. Es war nicht notwendig, so viel zu reden. Ich muss die Farben weiter beobachten. Sie haben mir etwas zu sagen. Ich habe den Efeu vom Gangfenster gegessen. Er war nicht gut. Ich habe ihn erbrochen. Wie soll ich jetzt wachsen? Ich füge mich ihren Anordnungen. Ich muss wieder zum Licht gehen dürfen. Ich muss gehorsam sein. Das ist meine alte Schuld. Ich war nicht gehorsam. Mein kleiner Bruder war gehorsam. Der Gehorsam hat ihn erdrückt. Sein Gehorsam hat seine Seele erdrückt. Da hat er sich die Seele genommen und das Leben dazu. Der Platz für Ungehorsam war schon besetzt. Ich hatte ihn besetzt. Für ihn war nur mehr der Platz des Gehorsams geblieben. Da habe ich die Schuld. Wäre ich mehr gehorsam gewesen, hätte er nicht so gehorsam sein müssen. Er har seine Seele auch für mich ausgehaucht. Es ist eine gerechte Strafe, dass mir meine Seele ausgebrannt worden ist. Ich habe es mit Gras versucht. Ich habe es nicht erbrochen. Ich höre sie reden. Sie reden über mich. Damals, hinter der Schiebetüre, haben sie nicht über mich geredet. Meine Diagnose ist eine ganz andere.

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Die Rampe 2/08
Hefte für Literatur: ausgebrannt


Verlag: Rudolf Trauner Verlag, Linz, 2008
Gattung: anderes | Veröffentlichungstyp: Zeitschrift/Zeitung

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