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Lena - Unser Dorf und der Krieg

Autoren: Käthe Recheis
Verlag: dtv - Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010
Gattung: Kinder- und Jugendliteratur | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

Blumen auf den Russengräbern

Der Winter war bei uns sicher nicht so schrecklich wie in Russland, aber auch bei uns war es kalt, mit Temperaturen tief unter dem Gefrierpunkt. Der Schnee lag hoch, und eine dicke Eisblumenpracht überzog alle Fenster. Die Kälte hatte sich in unser Haus geschlichen und ließ sich nicht mehr vertreiben. Dabei hatten wir es noch immer besser als die Leute in der Stadt, die nur auf die winzigen Kohlerationen angewiesen waren. Wir konnten den Küchenherd mit Reisig aus dem Garten heizen, und Nanni und Veronika brachten von Zeit zu Zeit einen Stoß Scheite aus dem Auwald. Wir gingen sehr sparsam damit um, richtig warm wurde unser Kachelofen im Zimmer nie. Die Rationen auf den Lebensmittelkarten waren wieder einmal gekürzt worden, auch Bezugsscheine für Kleider oder Schuhe gab es immer weniger. War ein Kleidungsstück zu schäbig geworden, trennten wir es auf. Mit der Innenseite nach außen zusammennäht, sah es dann wie neu aus. Aus zwei oder drei alten Kleidern kombinierten wir ein Kleid, das andersfarbige Einsätze oder Schulterpassen hatte. Pullover, die zu klein geworden waren oder Löcher an den Ärmeln hatten, wurden aufgetrennt und wieder neu gestrickt. Bunte Norwegermuster waren damals sehr modern. Wir verwendeten alles, kein Stückchen Stoff, kein Faden Wolle wurde weggeworfen. Früher hatten wir Kaninchen gehalten, damit Christoph und ich mit ihnen spielen konnten. Jetzt hielten wir Kaninchen, weil wir sie essen konnten. Die Felle gerbten wir mit Alaun und Asche und nähten Mützen, Fäustlinge und Jacken daraus. Die übriggebliebenen Felle sammelte meine Mutter in einer Truhe. Sobald mir nicht mehr jedes Jahr alles zu kurz und zu eng wurde, sollte ich einen Wintermantel aus Kaninchenpelz bekommen. Ich hoffe, dass ich bald zu wachsen aufhören würde. Mein Mantel war schon zweimal gewendet, der in vielen Jahren dünn gewordene Stoff wärmte kaum noch. Vor allem dann nicht, wenn der Wind blies. In den Kriegswintern blies der Wind sehr oft und sehr kalt. Vielleicht kam es uns auch nur so vor. Vielleicht blies er nicht öfter und nicht kälter als in früheren Wintern, als wir noch genug warme Kleidung gehabt hatten. Wenn der Wind über die Felder fegte und alles mit Schnee zuwehte, mussten die Russen aus dem Lager die Straße freischaufeln, Ein paar Wachsoldaten passten auf, dass keiner davonlief und niemand aus dem Dorf mit ihnen redete. Auf dem Weg zum Bahnhof oder auf dem Weg in den Wald kamen wir oft an der langen Reihe von Schneeschauflern vorbei. Immer wieder streckte eine der in Fetzen vermummten Gestalten verstohlen eine Hand aus, und eine Stimme murmelte: „Zigarettje! Zigarettje! Chleb! Chleb!“ Chleb war ein russisches Wort und hieß Brot. Einem russischen Kriegsgefangenen Brot oder Zigaretten zu geben, war verboten. Trotzdem hatten wir immer Brot für sie in den Manteltaschen und manchmal auch Zigaretten. Zigaretten waren rationiert und kostbar, dafür konnte man alles Mögliche eintauschen, sogar goldene Ringe. Meine Eltern und Willis Eltern hielten nichts von solchen Tauschgeschäften, und da sie selber nicht rauchten, gaben sie uns von Zeit zu Zeit en Päckchen von der Zuteilung. Die russischen Gefangenen kannten uns schon, und die Wachsoldaten schauten weg und taten, als sähen sie nichts. Einen der Schneeschaufler hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Er war sehr jung, nicht viel älter als Christoph, und hatte das gleiche runde Gesicht wie Berni. Die russischen Gefangenen erinnerten mich an unserer Panjepferde Max und Moritz. Sie waren ebenso weit weg von der Heimat und genauso geduldig in ihr Schicksal ergeben wie die zwei Pferdchen. Nur hatten Max und Moritz einen gemütlichen Stall und mussten nicht Hunger leiden. Essensrationen für Kriegsgefangene waren noch kleiner als unsere, und schon von unseren Rationen wurde man nicht satt. Außerdem verkaufte der Lagerkommandant einen Großteil von jeder Lieferung, die er für die Gefangenen erheilt, auf dem Schwarzmarkt. Er hatte nichts dagegen, wenn die Russen verhungerten, aber er hatte sehr viel dagegen, dass mein Vater die Totenscheine wahrheitsgetreu ausfüllte. Anscheinend durften Kriegsgefangene an Ruhr und Paratyphus oder an irgendeiner anderen Krankheit sterben, nur nicht an Hunger. Mein Vater weigerte sich, eine falsche Todesursache anzugeben. Der Lagerkommandant schwor, mein Vater werde das noch bereuen. Als der Schnee schmolz, verschwanden die Russen von den Straßen. Wenn mein Vater zur ärztlichen Kontrolle ins Lager fuhr, begleitete ich ihn. Hinein durfte ich freilich nicht, ich blieb draußen vor dem doppelten Stacheldrahtzaun stehen. Einmal sah ich den Jungen, der Berni glich, vor einer der Baracken, ein anderesmal kam er an den Stacheldrahtzaun und schaute zu mir heraus. Dann sah ich ihn nie weder. Mein Vater musste damals sehr viele Totenscheine ausstellen. Nach dem langen Hungerwinter hatten die Russen keine Widerstandskraft mehr, jetzt starben sie wirklich an Ruhr oder Paratyphus und anderen Krankheiten. Die Toten wurden am Waldrand verscharrt, wo nur Disteln, Gras und Unkraut wuchsen. Viele kleine Erdhügel lagen nebeneinander. Kein Namensschild zeigte an, wer dort begraben war. Einmal, im Frühling 1943, ging ich allein in den Wald und setzte mich neben den Russengräbern ins Gras. Eine ganze Woche lang hatte es nicht geregnet, die Erdschollen auf den kleinen Hügeln waren von der Sonne ausgedörrt und bröckelig geworden. Die Disteln standen schon hoch und grün, hatten aber noch keine Blüten angesetzt. Ich hätte gern gewusst, welcher der Erdhügel das Grab des Jungen war. Ich schaute über die von Frühlingsblumen bunte Wiese. An manchen Stellen hatte Wiesenschaumkraut das Gras mit einem lila Flor überzogen. Im Gebüsch hinter mir huschten Vögel umher. Etwas raschelte im halbverwesten Laub. Ein winziger Mäusekopf wurde sichtbar, stecknadelgroße schwarze Augen starrten mich an. Eine pelzige Hummel flog brummend vorbei. Ich hielt es nicht mehr aus, dass die Gräber so nackt waren – ohne Namensschild, ohne Kreuz, ohne Blumen. Ich pflückte einen großen Strauß, legte Wiesenschaumkraut auf die Hügel, weiße Margeriten, blaue Kaiserknopf, Steinnelken, Glockenblumen, Hahnenfuß und Löwenzahn. Als alle Gräber geschmückt waren, ging ich heim. Wegen der Blumen auf den Russengräbern gab es im Dorf eine große Aufregung. Irgend jemand kam gegen Abend am Waldrand vorüber, sah die Blumen – die schon verwelkt waren – und sagte es dem Kandler Kar. Der Kandler Karl rannte ins Grafenschlößl, und Gustav Perwanger bekam einen Wutanfall. Er ließ am Gemeindeamt ein Plakat anschlagen, auf dem er jedem, der beim Gräberschmücken erwischt wurde, mit einer Anzeige drohte. Wer Blumen auf die Gräber von Feinden legte, war ein Russenfreund, ein Volksverräter und Saboteur. Ich hatte nicht vorgehabt, die Gräber immer zu schmücken. Jetzt war es anders, jetzt musste ich es tun. Ich wäre mir sonst feig vorgekommen. Ich verabredete mich mit Christoph, Willi und Berni in der Grubenscheune und erzählte ihnen alles. Sie waren sofort bereit, mir zu helfen. Wir saßen im Stroh, ganz hintern in einer Mulde. „Glaubt ihr, dass die Russen sich freuen werden, wenn sie die Blumen sehen?“ fragte ich. „Ich weiß es nicht“, antwortete Christoph. „Vielleicht.“ „Nicht vielleicht“ Ganz bestimmt“ erklärte Willi. „Was meint ihr, wie sich mein Vater freuen tät’, wenn er wüsste, dass jemand das Grab vom Lois schmückt.“ Unseren Eltern verrieten wir kein Wort, wir wollten nicht, dass sie Angst bekamen und es uns verboten. Vor allem Willi war dagegen. Er hatte keine hohe Meinung von den Erwachsenen, sie waren ihm viel zu vorsichtig. Er hätte gern Heldeneltern gehabt, die sich mehr trauten. Wir warteten bis zum Abend. Als es dämmrig geworden war, schlichen wir aus dem Dorf. Bernis Mutter hatte Nachtschicht. Meine Eltern glaubten, dass Christoph und ich im Gruberhof wären. Willis Eltern glaubten, er wäre bei uns. Niemand begegnete uns. Wir gingen im Schutz der Weiden den Bach entlang. Am Waldrand huschten wir von Baum zu Baum und schauten in jedes Gebüsch. Wir fanden keinen Spitzel. Gustav Perwanger dachte wohl, er hätte mit seinen Drohungen das ganze Dorf eingeschüchtert. Wir hatten in paar verrostete Konservenbüchsen und ein paar alte leere Farbdosen mitgenommen, füllten sie mit Wasser und stellten sie auf die Erdhügel. Dann pflückten wir Blumen. Wir hielten uns nahe am Waldrand, damit wir im Schatten der Bäume verschwinden konnten, wenn jemand auftauchen sollte. Blumen aus unseren Gärten zu bringen, hatten wir nicht gewagt. Der Perwanger hätte sicher herausbekommen, woher sie stammten. Als wir alle Gräber geschmückt hatten, war aus der Dämmerung schon Nacht geworden. Über den schwarzen Wipfeln der Bäume blinkten die Sterne. Es war so still, so friedlich, nur einmal bewegte sich im Gezweig ein Vogel, ein leichtes Flattern, dann wieder nichts. Ich hatte einen Kerzenstummel mitgebracht, zündete ihn an und stellte ihn auf einen der Hügel. Am nächsten Tag, als wir nach der Schule in den Wald gingen, standen die Blumensträuße noch auf den Gräbern. Es war kein Unkrautwinkel mehr, wo man Menschen verscharrt hatte, es war nun ein richtiger kleiner Friedhof. Wir wanderten den Hügel hinauf, bis zur Höhle am Bach, und blieben dort eine Weile. Auf dem Rückweg sahen wir, wie der Kandler Karl bei den Gräbern die Blumen zertrampelte. Er warf Dosen und Büchsen auf einen Haufen und rannte dann ins Dorf. Wir warteten, unter den Bäumen versteckt. Als der Kandler Karl bei den ersten Häusern verschwunden war, holten wir Wasser, pflückten in aller Eile frische Blumen und schmückten die Gräber von neuen. Gustav Perwanger bekam wiederum einen Wutanfall, und am Gemeindeamt hing nun ein Zettel mit noch ärgeren Drohungen. Wir waren sehr zufrieden mit uns.

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