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Die Insel der verschwundenen Klänge

Autoren: Wolfgang Wenger
Verlag: Edition Tandem, Salzburg, 2012
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

Erstes Kapitel: The Sound Of Silence

Wahnsinn! Total verrückt! Völlig durchgeknallt! Abartig! Echt daneben! So etwas konnte es doch gar nicht geben, das war absolut nicht normal! Eleanor stand wie angewurzelt da, lauschte. Wow! Es war wirklich vollkommen still im Wald! Totenstill. Von einem Moment auf den anderen war keine Vogelstimme mehr zu hören. Kein Zwitschern, kein Fiepen, kein Flöten. Nichts. Nicht einmal die Bienen summten. Lautlos flogen sie von Blüte zu Blüte. Auf einem Baumstumpf saß eine Amsel, öffnete immer wieder den Schnabel, gab aber keinen Laut von sich. Das alles kam Eleanor vor wie ein Film, bei dem plötzlich der Ton ausgefallen ist. Doch sie war nicht im Kino. Dieser Wald, diese stummen Vögel, Bienen und Hummeln waren verdammt echt. In der Wirklichkeit konnte man nicht einfach den Ton abstellen. Und wenn es doch einmal geschah? Na, dann war etwas ganz und gar Unglaubliches geschehen, etwas, das furchtbar Angst machte. Panische Angst. Eleanor bewegte sich nicht. Immer noch hörte sie keinen Laut. Da war bloß ihr Atem. Und der wurde immer schneller.
„Hey! Was ist los?“, schrie sie.
„Los, los, los!“, antwortete das Echo, bis sich die Stille wieder wie Watte um ihre Ohren legte.
„Wenigstens bin ich nicht taub geworden“, stellte sie fest. Dennoch pochte ihr Herz bis zum Hals.
„Es muss etwas passiert sein“, schoss es ihr durch den Kopf. „Etwas Schreckliches, etwas...“ Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende und rannte los. Fort von der Lichtung, den Weg hinunter ins Tal. Immer wieder blieb sie stehen, schaute sich um, horchte, konnte es kaum glauben: Bei allen Vögeln und Insekten herrschte tatsächlich völlige Funkstille. Wer oder was konnte denn Tiere zum Schweigen bringen? Gab es für so etwas irgendeinen Grund?
“Fools”, said I, “You do not know silence like a cancer grows.”
Warum fiel ihr jetzt diese Stelle aus dem uralten Lied von Simon and Garfunkel ein? The Sound Of Silence. 1964 war der Song bereits auf den Markt gekommen. Eleanor hatte mit ihrer Band eine Funkversion davon gemacht mit ganz fetten Beats. Keiner erkannte sofort, welches Lied es war. Sie mochte die völlig unterschiedlichen Coverversionen der Gruppen Nevermore und Atrocity, aber ihr Funk war etwas ganz anderes, der fuhr einem so richtig in die Beine.
„Silence like a cancer grows“, sang Eleanor jetzt und dann rannte sie wieder, bis der Wald hinter ihr lag und vor ihr die Stadt. Außer Atem blieb sie stehen, horchte aufs Neue. Von Ferne dröhnte der Verkehr. Aber was war mit den Grillen? Zu Mittag hatten sie doch noch gezirpt! Jetzt aber war es in der Wiese gespenstisch still. Langsam tuckerte der Bus heran, sie stieg ein und fixierte einen Fahrgast nach dem anderen. Keinem war etwas anzumerken, die meisten stierten nur vor sich hin wie immer, als wäre überhaupt nichts geschehen. Sie fuhr durch die Vorortsiedlungen mit den schicken Gärten. Ob die Vögel dort auch nicht mehr sangen? Oder war alles nur Einbildung gewesen? Hatten ihr die Nerven einen Streich gespielt? Zugegeben, ihre Gefühle fuhren mit ihr Karussell, seit die Sache mit Jonas so schlecht gelaufen war. Manchmal war sie fix und fertig, dann wieder völlig überdreht. Deshalb war sie auch in den Wald gegangen. Sie hatte allein sein, sich beruhigen und nachdenken wollen. Als würde das etwas bringen! Als könnten Gedanken noch etwas daran ändern, dass es vorbei war mit Jonas. Dabei waren sie beide so verliebt gewesen. So sehr verliebt! Und dann hatte er seinen Status auf Facebook einfach auf Single geändert. Seither reagierte er nicht mehr auf Anrufe, auf Dutzende SMS. Einfach seinen Status ändern, so konnte man das nicht machen. So ging das doch nicht! Warum meldete er sich nicht mehr? Es war nichts Schlimmes vorgefallen zwischen ihnen. Kein einziger Streit in den sechs Monaten, die sie zusammen gewesen waren. Hatte er eine andere? Wäre es ihm zuzutrauen? So ein Typ war Jonas doch nicht! Fünfmal hatte sie an seiner Wohnung geläutet. Dreimal war niemand zur Tür gegangen und zweimal hatten seine Eltern gesagt, er sei nicht zu Hause. Dann war sie zu seiner Schule gefahren, hatte auf ihn gewartet. Oh Gott! Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Er war einfach an ihr vorbeigegangen. Und als sie ihm nachgerannt war, hatte er einfach gesagt: „Lass mich in Ruhe!“
„Lass mich in Ruhe!“, wie kann einer, den man liebt, so etwas sagen?
„Vielleicht habe ich mir wirklich nur eingebildet, dass Vögel und Insekten verstummt sind“, dachte Eleanor nun ganz vernünftig, als sie an der Haltestelle Parkstraße umstieg. In der Stadt war alles wie immer. Was hatte sie eigentlich befürchtet? Hysterisch schreiende Menschen? Hektische Sanitäter und Feuerwehrleute? Rauch? Zersplittertes Glas? Oder etwas Unsichtbares? Radioaktive Verstrahlung? Giftgas? Der Schrecken kannte tausende Bilder. Keines davon war hier zu sehen. Doch da bemerkte sie es wieder. Auf einem Fliederbusch am Rand des Parks saß eine Kohlmeise. Dieser Vogel war eine Seltenheit im Stadtgebiet, wo es vor allem Tauben und Spatzen gab. Die Kohlmeise öffnete und schloss den Schnabel. Ganz rhythmisch, ganz wie ein singender Vogel. Kein Laut!! Auf dem Boden hüpften Spatzen und schwirrten weg, als Eleanor auf sie zuging. Sie tschilpten aber nicht. Das war mehr als ungewöhnlich. Es schien nur niemandem aufzufallen. Die Leute hasteten den Gehsteig entlang, viele telefonierten. Im nächsten Bus traf sie Lucia, die wegen des Mathetests nervte.
„Nein, Lucia, ich habe noch nichts gelernt! Nein, ich habe wirklich keine Ahnung von diesen Gleichungen. Und nein, ich habe keine Zeit, okay?“
„Denkst du immer noch an diesen Typen? Wie heißt er? Jonas?“
„Nein, Lucy, ich denke daran, dass die Vögel nicht mehr singen und keine Bienen mehr summen.“
„So wie du redest, mache ich mir langsam Sorgen um dich! Tickst du noch richtig?“
„Hey, ich bin nicht wie du im Himmel mit Diamanten!“
„Was meinst du denn damit? Spinnst du jetzt total?“
„Lucy in the sky with diamonds, das ist ein Lied von den Beatles. Kennst du das nicht?“
„Nein, keine Ahnung! Hörst du denn die Beatles? Die sind doch mega out!“
„Eigentlich hör ich sie selten. War nur so eine Idee von mir, dieses Lied zu erwähnen.“
„Ich glaub, du machst dich ganz schön fertig wegen Jonas.“
„Nein, mach ich nicht, aber ich nehme an, es ist besser, du setzt dich jetzt einfach auf einen leeren Platz und lernst Mathe. Die Gleichungen sind sicher arg schwer.“
„War nett, mit dir zu plaudern“, sagte Lucia und setzte sich ganz weit nach vorne.
„Die hat mir gerade noch gefehlt“, dachte Eleanor und lehnte sich gegen die Haltestange, „das ist heute nicht mein Tag.“
Sie strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und rückte den dunkelgrünen Rock zurecht, den sie über der Levis-Jeans trug. Sie hatte ihn zusammen mit dem T-Shirt in derselben Farbe vergangene Woche auf einem Flohmarkt gekauft. Es gab dort echt tolle Sachen. Superbillig und total ausgeflippte Einzelstücke.
Zuhause setzte sie sich gleich vor den Fernseher. Sie musste sich einfach ablenken. Egal wie. Egal mit welcher Sendung. Sie zappte ein wenig herum. Grey´s Anatomy. Die Simpsons. Irgendeine Talkshow. Noch eine. Und eine dritte. Werbung. Sie trank Orangensaft, futterte Chips. Nach einer Weile schob sie die Packung weit von sich weg ans andere Ende des Tisches.
„Jetzt reicht´s!“, dachte sie. „Ich hab seit vergangenen Freitag ein Kilo zugenommen. Das krieg ich in dieser Woche noch weg!“
Plötzlich hörte Eleanor ihr Herz wieder bis zum Hals pochen, denn in den Nachrichten brachten sie folgende Meldung:
Zahlreiche Menschen beobachteten heute in ganz Europa, dass Vögel und Insekten von einem Moment auf den anderen verstummten. Den Experten gibt dieses ungewöhnliche Verhalten von Tieren ein Rätsel auf. Der Zoologe Professor Dr. Bernd Sochor von der Freien Universität Berlin ist jedoch davon überzeugt, dass die Wissenschaft bald eine Erklärung für dieses Phänomen findet.
Dazu zeigte der Fernsehkanal Vögel vor Nistkästen, Vögel, die ihre Jungen fütterten, Bienen auf Blüten, alles untermalt von einer ruhig dahinplätschernden Musik, die an den Wellnessbereich eines Hotels erinnerte. Den Abschluss des Beitrags bildete eine in Tränen aufgelöste ältere Frau, die vor einem Vogelkäfig stand und es nicht fassen konnte, dass ihr Wellensittich nicht mehr sang.
„Na, soll doch die Alte dem Vieh was vorsingen!“, machte sich Eleanors Bruder Tom lustig. Dann fläzte er sich neben sie aufs Sofa und vertilgte die restlichen Chips. Er trug seine Kappe wie immer verkehrt herum, der Schritt seiner Jeans befand sich irgendwo zwischen den Oberschenkeln. Eleanor hatte gar nicht bemerkt, dass auch er heimgekommen war. Sie bekam diese Zeile aus dem Song The Sound Of Silence nicht aus dem Kopf: “Fools”, said I, “You do not know silence like a cancer grows.”

Nächstes Kapitel zum Weiterlesen:
http://www.wolfgangwenger.at/pdf/leseprobe_insel.pdf


 

/ 2012

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