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Welchen Sinnes, welchen Seins

Autoren: Bernhard Hatmanstorfer
Linz, 2002
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Literaturnetz

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Textproben:

Welchen Sinnes, welchen Seins Es war spät in der Nacht. Sie saß von anderer Leute Launen malträtiert und von Müdigkeit zerquält vor dem Garderobespiegel und schmirgelte sich mit getunkten Bäuschen Schminke aus dem Gesicht. Allmählich verschwand die aufgetragene Röte und legte ein darunter bleichweißes Schauen offen, dessen Stieren in der Ferne des Spiegels den Blicken des Spiegelbilds zu begegnen und gleichermaßen auszuweichen trachtete. Sie fühlte sich abgekämpft und matt, gedemütigt und verletzt. Das Lächeln, das sie jetzt versuchte, war von der gleichen aufgesetzten, im Grunde völlig unheiteren Natur, wie ihre gekünstelten Ausbrüche tagsüber es waren. Ein Lächeln, das Türen öffnen und Herzen aufschließen und damit Abgründe auftun konnte. Alles was unter den geforderten Finten der Verstellung, den gezwungenen Bezeugungen der Höflichkeit, an Schrecknissen in jedem darauf lauerte, je einmal hervorzubrodeln, eine grausige Wahrheit zu leben im Vorfeld des schönen Anscheins. Berückend ist nur die Verkleidung. Es war schlimm. Aber sie empfand, die Menschen waren so. Wie in dem Gedicht von Walter Hasenclever, das die Tötung von jungen Schwalben im Gefängnishof beklagt. Menschen, Menschen...Oder sie sind so geworden. Und dabei wäre sie selbst, sagte sie sich, kein Stück besser. Als. Und im Grunde genauso bereit, es den eingeredeten Zwängen gerecht zu machen. Ernsthaftigkeit in Wahrheit nur zu markieren. Simulierte Leidenschaften als echte feilzubieten. Die feinen Herrschaften mit den dicken Brieftaschen - welche Machenschaften hatten sie ihnen gefüllt? Wie lange hält man es aus, in der Lüge zu leben, wenn man sich noch vorstellt, noch nicht bereits die Lüge selbst ist, ehe man es wird? Das wirkliche Leben spielt in keiner Komödie, sagte sie sich und ging sich ihr wahres Gesicht unter fließendem Wasser waschen. Und morgen die Fortsetzung des Theaters, des Lebens. Welchen Lebens? Wessen Seins?

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