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Ãœberschreiten lernen

Kultur im sozialen Engagement. Soziales Engagement in Kultur und Bildung: Sprechen, Vorgehen, Verstehen.

Autoren: Brigitte Menne
Verlag: Studien Verlag, Innsbruck, 1999
Gattung: anderes | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

Wir ahnen, dass ein Sprechen, das sich bloß eines Zeichensystems und eines Formulars bedient, nicht ausreicht. Erinnern wir uns an unser vorsprachliches Einfühlen, das wir als Kinder praktizierten, bevor die Worte feste Konturen annahmen. Wenn Worte fielen, die wir nicht kannten. Wir horchten mehr auf die Gestalt der Worte und die Weise, wie sie betont wurden. Ich nehme an, wir achteten noch auf die sinnliche Präsenz der Worte um draufzukommen: Was sprechen diese Worte an? Wovon sprechen sie? ich erinnere mich, dass ich diese Form des Verstehens als Kind übte und mit anderen Kindern leidenschaftlich praktizierte, ohne dass wir es thematisierten. Das ging so: "Was hört meine Freundin mit diesen seltsam gebogenen Ohren. Wie riecht die Welt mit so gro0en Nüstern, wie dieser Bub sie hat. Wie fühlt sich der Wind an mit Korkenzieherlocken. Wie greifen sich die Dinge an mit solchen dünnen Drahtfingern?" Das ging so weit, dass ich mir aus dem Mundgeruch eines Spielkameraden vorstellte, wie die Jause für ihn wohl anders schmeckte als für mich. Und ich fragte mich, ob mein Geschmackssinn, der an meinem Atem zu erkennen ist, wohl eine Art Filter vor den Geschmack der Welt legt, die mir meine Brüder über ihre Mundgerüche verständlich macht... Gerade auf dem Hintergrund meiner jetzigen Berufsarbeit mit sozialen Randgruppen glaube ich, dass es die "politischen Körper" wieder zu gewinnen gilt, aber dazu braucht es "Erdungen". Ich meine damit das Wiedererreichen einer Gesprächskultur zwischen Inwebs und Outwebs genausogut, wie zwischen Inlaws und Outlaws wie Kindern, NachbarInnen und all den peripheren und "farbigen" Personen(gruppen). Und ich meine damit auch die Kultivierung des alltagssprachlichen Ansprechens und Widersprechens, das Erlernen und Lehren von Civilcourage und von spontanen Solidarisierungen: also legitime Überschreitungen des Normativen. Die Vielsprachigkeit genügt nicht mehr, es braucht die Bereitschaft zur nahen Verständigung, das "Inkaufnehmen des Mundgeruchs" im Überschreiten sprachlicher (kultureller) Barrieren und ein neues, ermutigendes Befassen mit Befreiendem. Ich sage dazu MutterSprache, weil sie zuerst gegen Monopole der (patriarchalen) Richtsprachen an-spricht. Die Richtsprachen müssen sich wieder herablassen und zur Verständigungs-/Verständlichkeitskultur gezwungen werden. Die "Kultur der Überschreitung" wäre für mich jener Lichtstreif am Horizont, den ich unserer Kultur- und Bildungsarbeit zumuten möchte.

/ 1999

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Modelle und Reflexionen
Bildungs- und Kulturarbeit in den Regionen


Verlag: Studien Verlag, Innsbruck, 1999
Gattung: anderes | Veröffentlichungstyp: Buch

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